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Wohin Verschwinden die Grenzen? / Kam Mizí Hranice?

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Fratres, 2014
Waldkirchen an der Thaya, 3844

Information

Sichtbare Grenzen werden innerhalb der Europäischen Union nach einem festgelegten Zeitplan abgebaut und verschwinden – zumindest scheinbar. Entsprechend paradox ist der Satz "Wohin verschwinden die Grenzen?". Würden sie wirklich verschwinden, müssten wir nicht fragen, wohin Sie wandern: einerseits an die EU­Außengrenzen, wo sie in sehr ähnlicher Erscheinungsform – als Stacheldrahtzäune, Absperrungen, Mauern, strenge Personen­ und Warenkontrollen etc. – wieder auftauchen, andererseits weg von der Grenze in das Land hinein, in (überwachte und eingezäunte) Siedlungen, in Diskussionen und Maßnahmen zu Sicherheit, Migration, Aufenthaltsrecht etc. Die Arbeit "Wohin verschwinden die Grenzen?" steht direkt neben dem in den frühen 90er-Jahren neu errichteten österreichischen und tschechischen Grenzübergang bei Fratres. Die Metallkonstruktion – 4 Meter hoch und über 50 Meter lang – ist Display für einen Schriftzug und für Bildtafeln und gleichzeitig ein Verweis auf staatliche und private Abgrenzungsstrategien.

Zentrum der Konstruktion war für zwei Jahre eine Arbeit, die vorwiegend mit Laiendarsteller_innen mit Migrationshintergrund in Čížov inszeniert wurde, wo ein letzter Rest musealisierter "Eiserner Vorhang" steht. Die Fotografien wurde im Herbst 2012 – mittlerweile von Wind und Wetter verblichen – wieder abgenommen. Eine Wiederaufnahme und Weiterführung des im Jahr 2009 gestarteten Projekts erscheint sinnvoll, hat sich doch die Diskussion seit damals weiterbewegt und zugespitzt. Die Grenzübergänge innerhalb der Schengenländer sind zum Großteil real abgebaut und alles, was landläufig an Grenze im klassischen Sinn erinnert, ist verkauft und demontiert worden. Die Grenzhäuser wurden privatisiert, die Anbauten, Befestigungen, Schranken, Kontrollhäuschen etc. zerlegt und abtransportiert. Damit ist ein Stück Zeitgeschichte verschwunden – ein Umstand, der uns zu Zeitzeugen macht. Wir sind innerhalb der EU ein gutes Stück freier geworden, aber auch beklommen in Anbetracht der Flüchtlingsströme aus Kriegs­ und Krisengebieten und in Vergegenwärtigung der andernorts neu errichteten Zäune und Mauern. Die Festung Europa versucht, sich an den Außengrenzen gegen Eindringlinge abzuschotten, und beauftragt internationale Sicherheitsfirmen mit der Überwachung ihrer Grenzen, deren Sicherung dem Aufgreifen und Abschieben von Übertreter_innen, Überläufer_innen und Überfahrer_innen sowie der Erhaltung des Status quo für uns Europäer_innen dient. Verschiedene Staaten bauten unüberwindbare Mauern, andere überlegen deren Errichtung. Modernster Stacheldraht und meterhohe Sicherheitsbarrieren sichern die Außengrenze in Marokko, wo das "Grenzproblem" überhaupt an ein Nicht-EU­Land ausgelagert wurde. Täglich lesen wir von immer noch höheren Zahlen von umgekommenen und aufgegriffenen Personen, die in der Hoffnung auf ein neues Leben an unsichtbaren, aber nicht minder effektiven Grenzen gescheitert sind.Die Frage "Wohin verschwinden die Grenzen?"/"Kam mizí hranice?" ist 2014 virulenter denn je. Die Arbeit ist der Versuch, bei allen berechtigten Feierlichkeiten zum Fall des Eisernen Vorhanges Aufmerksamkeit auf die neuen Grenzen und Mauern zu richten und sich der Bedeutung eines kontinuierlichen Engagements für den Frieden bewusst zu werden. Wir haben Künstler_innen aus Tschechien, Polen und Österreich eingeladen, mit ihren Arbeiten auf vergangene, gegenwärtige und zukünftige Grenzdiskurse zu verweisen und diese zu reflektieren.
(Iris Andraschek und Hubert Lobnig)

Mitwirkende

Kuration

Beiträge

Katrin Hornek

„The Park Ranger“ zeigt den zuständigen „Surveillance Manager“ und Wildtier-Biologen des Banff National Park, wie er im Fernsehstudio des Banff Centers posiert. Hornek inszeniert die Szene in Anlehnung an Caspar David Friedrichs berühmtes Gemälde „Der Mönch am Meer“. 200 Jahre später wird der Ausblick auf die unendliche Weite des Horizonts durch den „studio green screen“ ersetzt. 


„UPSTREAM“: Der Colorado River spielt in der mythenumwobenen Eroberung des amerikanischen Westens eine große Rolle. Landwirtschaft, Trinkwasser­ und Elektrizitätsversorgung hängen im wüstenreichen Südwesten der Vereinigten Staaten bis heute stark vom Wasserregime des Colorado River ab. Mit dem Law of the River wurden 1922 die politischen Weichen für den Fluss gestellt. Durch dieses Gesetz wurden die Wassermengen zwischen den angrenzenden Bundesstaaten und Mexiko rationiert, und es wurde dadurch auch entschieden, welche Gebiete sich ökonomisch entwickeln können und welche Wüstenlandschaften bleiben. Als Hauptschaltzentrale des Flusses gilt der Hoover Dam. Flussaufwärts bildet der Grand Canyon das natürliche Denkmal des Flusses. Flussabwärts an den Ausläufen im Süden wird der Großteil des noch verbleibenden Colorado River über den All American Canal als konstruierten Grenzfluss zwischen Mexiko und Amerika ins Imperial Valley – das riesige, künstlich bewässerte Getreideanbaugebiet Kaliforniens – umgeleitet. Durch die Übernutzung erreicht der Colorado seit den 1960ern kaum noch das Meer, sondern versiegt in den großindustriellen Feldern vor der mexikanischen Grenze. 

Agnieszka Kalinowska

Agnieszka Kalinowska hat für das Projekt eine neue Arbeit entwickelt. Das Wort WELCOME wurde dafür aus gealtertem, stark korrodiertem Metall geschnitten und auf ein Display montiert. Es ist zerstört, hat Löcher, und einige Buchstaben sind wegen der starken Zerstörung fast gar nicht mehr lesbar. Die Löcher könnten auch Einschusslöcher von Waffen sein. Während des Jahres seiner Präsenz wurde der Schriftzug durch Wind und Wetter noch stärker zerstört. „Jemanden an der Tür zu begrüßen ist heutzutage eher eine Angelegenheit der Diplomatie. Es geht eher darum, dass der Gastgeber den Strom der Gäste kontrolliert. Diejenigen, die glücklich im Frieden leben und denen es gut geht, empfangen die Flüchtlinge, die ein Obdach suchen, nicht mit offenen Armen. Stattdessen stellen sie an der Grenze Schilder mit dem Text ‚Willkommen‘ auf.“

Lukáš Houdek

Die Arbeit „The Art of Killing“ („Die Kunst des Tötens“) besteht aus einer Serie von 25 SW­Fotografien, auf denen Massaker an deutschen Zivilisten in Tschechien im Jahr 1945 in modellhaften Szenen mit Puppen nachgestellt werden. „Besonders nach Kriegsende und vor dem Potsdamer Abkommen, das die Bedingungen der Zwangsumsiedlung der Deutschen aus den tschechischen Grenzgebieten regelte, wurden tausende Deutsche auf Grund einer angenommenen Kollektivschuld getötet – darunter auch Widerstandskämpfer gegen die Nazis, Ausländer oder Juden. Diese brutalen Taten wurden oft von den Mitgliedern der Revolutionären Garden begangen (manchmal abschätzig ‚Plündergarden‘ genannt); Einheiten, die nach dem Prager Aufstand aus Partisanen und Freiwilligen gebildet worden waren. […] Teile der Roten Armee und der wiedergegründeten tschechoslowakischen Armee verhielten sich zum Teil ähnlich. […] Später war es verboten, über diese Verbrechen zu sprechen.“ 


„The Art of Settling“ („Die Kunst des Siedelns“) ist ein Folgeprojekt von „The Art of Killing“ („Die Kunst des Tötens“) aus dem Jahr 2012. Es stützt sich auf Archivmaterial aus einem Dossier namens Siedlungskomitee, das im Bezirksarchiv der Stadt Tachov aufbewahrt wird. Dieses Material stellt ein authentisches Bild der Anwerbekampagnen dar, die sich an zukünftige Siedler richteten. Es dokumentiert auch die späteren Lebensbedingungen der Siedlerfamilien in der öden Grenzregion.

Franz Kapfer

„Arabesken“ Franz Kapfer zeigte eine Fotoserie von Zaun-­ und Maueroberkanten, die 2014 in Istanbul entstanden ist. Unter dem Gesichtspunkt der Arabeske und des Ornaments winden sich Linien und Punkte in sich überschneidenden Kreisen im starken Gegenlicht des Himmels im Hintergrund. Der Bandstacheldraht – umgangssprachlich „NATO-Draht“ – wird, um seine volle Effektivität und Wehrhaftigkeit zu entfalten, in speziellen Formationen verlegt. Statt der eingewickelten Drähte mit scharfkantigen Spitzen besteht er aus einem dünnen Blechband, in das scharfe Klingen eingestanzt sind. Der „NATO-Draht“ wird seit den 1960er-Jahren verwendet und hat mittlerweile in einigen Bereichen den normalen Stacheldraht abgelöst. Er wird in der Regel für militärische oder hoheitliche Zwecke als Umzäunung und Grenzsicherung eingesetzt. 

Abbé J. Libansky

„Grenzen im Kopf“ Als im Jahre 2001 im Rahmen der Verhandlungen über den Beitritt Tschechiens zur EU das Thema der sogenannten „Beneš-Dekrete“ aktuell wurde, stellte Abbé J. Libansky zwischen Fratres und Slavonice direkt an der österreichisch­tschechischen Grenzlinie 250 Büsten des Präsidenten Edvard Beneš auf. Er lud dazu Vertreter_innen aller politischen Parteien aus beiden Ländern ein, über dieses nicht abgeschlossene traurige Kapitel unserer gemeinsamen Geschichte direkt hier an der Grenze miteinander zu reden. Damals ist niemand gekommen. Mittlerweile ist der Grenzzaun verschwunden, aber dieses Thema ist eines von vielen, das weiterhin in unseren Köpfen die Grenzen bestehen lässt. Die Beneš-Köpfe von damals sind verstaubt, aber noch immer vorhanden. 

Zbigniew Libera

Libera spielt in seinen Arbeiten oft mit (visuellen) Assoziationen und Erinnerungen seiner BetrachterInnen. „History Lesson“, ein Teil der mehrteiligen Arbeit „New Histories“, projiziert Ängste, Unschlüssigkeiten, Albträume in einen nicht näher definierten Zeit-Raum. Drei Pferde mit Reitern sind vor einem leer stehenden, halb zerstörten Wohnbau zu sehen. Das Format des Bildes ist stark horizontal. Sind die Reiter Anarchisten, Punks, Outlaws, Mitglieder einer Privatarmee? Wir empfinden das Bild als urbane Dystopie, eine verwüstete Welt nach einer Katastrophe oder einem Krieg, eine Welt, in der nichts so ist, wie es sein sollte. Wichtig für die Lesbarkeit der Fotografie ist der Ort, an dem sie gemacht wurde: Borne Sulinowo (deutsch: Groß Born) ist eine Stadt mit 4.500 Einwohner_innen in Polen. Am Bahnhof Groß Born entstand eine Militärsiedlung, die in den 1930er-Jahren stark erweitert wurde und im Dritten Reich den Namen Westfalenhof erhielt. 1943 wurde sie zum Garnisonsstandort der Wehrmacht. Von 1939 bis zum Kriegsende bestand in Groß Born ein Kriegsgefangenenlager. Borne Sulinowo war nach 1945 der Sitz einer Garnison der Roten Armee, deren Verwaltung es unterstand. Bis 1993 lebten hier fünfzehntausend Soldaten. Nach dem Abzug der sowjetischen Streitkräfte wurde die Siedlung 1993 geplündert und zerstört. 

Heidi Schatzl

„THEY MAY HAVE STOLE OUR BANNER BUT THEY WILL NEVER STEAL OUR CULTURE.” Die Stadtstruktur des nordirischen Belfast ist aus politisch gegensätzlichen Standpunkten gebaut. Außerhalb des Zentrums sind es haushohe Wandmalereien, die Positionen der politisch geteilten Bevölkerung zum Ausdruck verhelfen, denn in Belfast ist ein Haus nur innen zum Wohnen, nach außen ist es Träger einer politischen Botschaft, die sich über die ganze Fassade erstreckt. Weithin sichtbar steckt die Wandmalerei Territorien ab. Der Charakter der Murals ist divergent, sie sind Drohung, Richtigstellung, Mahnmal, Erinnerung, existenzielle Aussage. Allein schon deswegen, weil es überhaupt möglich ist, gegensätzliche Aussagen im Stadtraum dauerhaft anzubringen und damit breite Diskussionen auszulösen, haben sie das Potenzial zur Versöhnung.


“How to draw a line?“ In den Fotos von Jerusalem und Hebron wird ein Urbanismus gegensätzlicher Politik sichtbar. In beiden Städten verläuft die Grenze zwischen Israel und den palästinensischen Autonomiegebieten durch Straßenzeilen, die weit älter sind als der Osloer Friedensvertrag von 1994, durch den die erstmalige Grenzziehung einer beabsichtigten Zweistaatenlösung festgelegt wurde. Das Grab von Abraham in Hebron, die Höhle Machpela, ein zentraler Ort beider Religionen, ist zur einen Hälfte Synagoge, zur anderen Moschee. Nur dasselbe Wandfries durchzieht beide Staaten. Es kommt auch vor, dass ein Haus im arabischen Gebiet steht, das Dachgeschoß aber israelisch besetzt ist und die Terrasse mit Containern und Plastiksesseln zu einer Kontrollstation umgewandelt wurde. Nicht nur, dass die Staatsgrenzen durch ein Haus gehen, ihr Charakter ist auch noch temporär: Palästinensische Märkte sind mit Übergängen verbaut, die, in Blech ausgeführt, einen ebenso mobilen Charakter aufweisen. In diesen Städten scheint es, als sei eine Grenze oftmals blutig umkämpft, aber auch jung, veränderbar und nicht endgültig. 

Johanna Tinzl, Stefan Flunger

Die Fotoserie „Framing the Fringe“ („Die Rahmung des Randes“) entstand während einer Autoreise entlang der Ostgrenze der Europäischen Union. Das Zentrum jeder fotografischen Aufnahme bildet ein konventionelles Navigationsgerät. Es zeigt, dass jedes Foto direkt vor der jeweiligen Außengrenze aufgenommen wurde. Die Landschaft um die Grenzlinie bildet den Hintergrund. Der Umfang der jeweiligen Rahmung der Bilder entspricht der Länge der EU-Außengrenzen der Länder, in denen die Fotos entstanden, somit den Längen der Grenzen zwischen Estland und Russland, Litauen und Kaliningard, Polen und Kaliningrad, Litauen und Belarus, Lettland und Russland, Lettland und Belarus, Polen und Belarus, Polen und der Ukraine, Rumänien und der Ukraine, Rumänien und Moldawien, Ungarn und der Ukraine, der Slowakei und der Ukraine, Bulgarien und der Türkei, Griechenland und der Türkei sowie der De-facto-Grenze auf Zypern. 

Bilder (7)